Glosse und Bibeldichtung: Der Beginn einer Literatur in deutscher Sprache

Glosse und Bibeldichtung: Der Beginn einer Literatur in deutscher Sprache
Glosse und Bibeldichtung: Der Beginn einer Literatur in deutscher Sprache
 
Im »Vielvölkerstaat« der Franken, der sich entsprechend der »Translatio Imperii« (= die Übertragung des Kaisertums) als Nachfolgestaat des Römischen Reiches verstand, deckte die lateinische Sprache den gesamten Bereich der überregionalen Verständigung, der Verwaltung und Religion ab. Das Bildungsmonopol lag in den Händen des Klerus, der die antike Schriftkultur in den Dienst des Christentums gestellt hatte und zudem ein tiefes Misstrauen gegen die mündlich tradierte Dichtung der Laien hegte, die immer wieder mit den Etiketten »heidnisch«, »lügenhaft« und »anstößig« versehen wurde. Wenn nun lateinisch gebildete Mönche im ausgehenden 8. Jahrhundert erstmals Versuche unternahmen, in ihrer Muttersprache zu schreiben, so sind diese Textzeugnisse - als Übersetzung oder als Verständnishilfe - auf das Lateinische bezogen und dienen fast ausschließlich der christlichen Verkündigung.
 
»Literatur« meint in dieser Epoche alles, was schriftlich aufgezeichnet wurde, von Inschriften über liturgische, rechtliche und schulische Gebrauchstexte bis hin zur Dichtung im engeren Sinn. Dazu kommt die mündliche Dichtung der Laien, zum Beispiel das Heldenlied, die zum Teil erst viel später schriftlichen Niederschlag fand. Das »Wagnis« des Schreibens beziehungsweise Dichtens in der Volkssprache war undenkbar ohne die Protektion vonseiten der weltlichen Obrigkeit: Dieser Impuls war von den Reformbestrebungen Karls des Großen ausgegangen, die einerseits auf eine verbesserte Ausbildung des Klerus, andererseits auf die Einigung und Stärkung des Reiches durch Reorganisation des Kirchenwesens, der Rechtsprechung und der Verwaltung abzielten. Von den Geistlichen wurde gefordert, die liturgischen Elementartexte zu beherrschen und in der Volkssprache zu predigen. In den Klöstern sollten Schulen und Bibliotheken eingerichtet, die »Sieben Freien Künste« studiert und die verderbten biblischen und liturgischen Texte »gereinigt« und »verbessert« werden. Bereits ab der Mitte des 8. Jahrhunderts hatte man begonnen, lateinische Handschriften mit deutschen Glossen zu versehen; gleichzeitig entstanden Glossare, alphabetisch oder nach Sachgebieten geordnete Wörterbücher wie der »Abrogans« oder der »Vocabularius Sancti Galli«, die nicht nur dem Verständnis der Fremdsprache dienten, sondern auch die Volkssprache begrifflich erweiterten.
 
Mit der Bildungsreform Karls des Großen erlebte nun sowohl die Pflege der lateinischen Sprache als auch die Glossierungstätigkeit einen ungeheuren Aufschwung; darüber hinaus entstanden, unter anderem in Freising, auf der Reichenau, in Murbach, Weißenburg und Fulda, Übersetzungen liturgischer und katechetischer Texte, die sich meist noch sehr eng an die lateinischen Vorlagen anlehnten. Geistiges Zentrum dieser Reformbemühungen war die »Capella Regis« (Hofakademie), die Gemeinschaft aller am Königshof tätigen Geistlichen, der unter anderem der Angelsachse Alkuin, der Langobarde Paulus Diaconus und der Franke Einhard, Karls späterer Biograph, angehörten.
 
In Fulda entstand im zweiten Viertel des 9. Jahrhunderts unter dem Abt Hrabanus Maurus der »althochdeutsche Tatian«, eine wort- und zeilengetreue Übersetzung der »Evangelienharmonie« des Syrers Tatian aus dem 2. Jahrhundert. Der »althochdeutsche Tatian« erschloss nicht nur den Evangelientext in der Volkssprache, sondern bildete auch die Grundlage für eine eigene Bibeldichtung, die erstmals mit dem altsächsischen, fast 6000 Stabreimverse umfassenden »Heliand« (entstanden zwischen 822 und 840) in Erscheinung trat. Wie der »Heliand« gehen auch zwei bairische Stabreimdichtungen des 9. Jahrhunderts, das »Wessobrunner Schöpfungsgedicht« und das »Muspilli« (»Weltenbrand«) auf die Mentalität der Laien, insbesondere deren Rechtsdenken ein, um eine Vorstellung vom Beginn beziehungsweise vom Ende der Welt zu vermitteln. Den Höhepunkt der althochdeutschen Bibeldichtung bildet zweifellos die über 7000 Langzeilenverse umfassende »Evangelienharmonie« Otfrids von Weißenburg, die zwischen 863 und 871 entstanden ist. Auch dieses Werk, mit dem erstmals der Endreim in der deutschen Sprache in Erscheinung trat, kann - zumindest indirekt - mit Fulda in Verbindung gebracht werden, denn dort hielt sich der Autor um 830 als Schüler des Hrabanus Maurus auf. Seine eigentliche Wirkungsstätte war aber Weißenburg, wo er wesentlichen Anteil am Aufbau der Bibliothek hatte und durch Randkommentare zu allen Büchern der Heiligen Schrift die Grundlagen für seine eigene Dichtung schuf.
 
Otfrid beschritt insofern neue Wege, als er die Erzählung vom Leben Jesu geistlich, das heißt im Hinblick auf die ethische Beispielhaftigkeit des Geschehens (»moraliter«), auf die heilsgeschichtliche Bedeutung (»spiritaliter«) und auf das kommende Reich Gottes (»mystice«) auslegte. Es ist offensichtlich, dass Otfrid damit nicht mehr auf bloße Vermittlung elementarer Glaubenswahrheiten abzielte, sondern auf Vertiefung und Vergeistigung einer bereits akzeptierten Religion bei einem gebildeten Publikum, das man sich nicht nur in der klösterlichen Gemeinschaft, sondern auch in Adelskreisen denken kann.
 
Ab dem Beginn des 10. Jahrhunderts verstummte für ungefähr 150 Jahre die deutsche Literatur. Aus dieser Epoche fast ausnahmslos lateinischer Schriftlichkeit (»ottonische Renaissance«) ragt wie ein »erratischer Block« das Werk des Sankt Galler Mönchs Notker III. Labeo, mit dem die althochdeutsche Übersetzungskunst ihren Höhepunkt erreichte. Als Leiter der Klosterschule übertrug und kommentierte er - unverkennbar für die Unterrichtspraxis - die lateinischen Schultexte, unter anderem Boethius' »De consolatione philosophiae« und Martianus Cappellas »De nuptiis Mercurii et Philologiae«, aber auch die Psalmen. Sein Bemühen um eine wissenschaftliche Prosa in deutscher Sprache war aber ebenso eine »literaturgeschichtliche Episode« wie die kurze, knapp 100 Jahre währende Blüte der althochdeutschen Literatur, die ohne die gezielte Förderung durch die karolingischen Herrscher, insbesondere Karl den Großen und Ludwig den Deutschen, nicht möglich gewesen wäre.
 
Dr. Bernd Steinbauer
 
 
Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, bearbeitet von Wolfgang Beutin u. a. Stuttgart u. a. 51994.
 Wehrli, Max: Geschichte der deutschen Literatur vom frühen Mittelalter bis zum Ende des 16. Jahrhunderts. Stuttgart 21984.

Universal-Lexikon. 2012.

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